Am Rosenmontag vor zwei Jahren rast ein Sattelschlepper auf der Autobahn 5 an einem Stauende in einen Pkw, der ein weiteres Auto unter einen Tanklast-Auflieger drückt. Eine Familie wird dabei fast ausgelöscht, nur ein 15-jähriges Mädchen überlebt in dem Wrack. „Das hat uns das Herz zerrissen, das war so unnötig“, sagt Dieter Schäfer, Sprecher der Initiative „Hellwach mit 80 km/h“, in Mannheim. Hinter der blanken Zahl von durchschnittlich 113 Menschen, die vom Tod eines Verkehrsteilnehmers unmittelbar betroffen sind, stehen bewegende Schicksale, wie der ehemalige Leiter der Mannheimer Verkehrspolizeidirektion erzählt.
Die junge Frau, die ihre Eltern und Schwester verlor, sei zwar körperlich wieder auf dem Damm, aber psychisch gezeichnet. Ein weiterer Mann starb bei dem Horrorunfall in dem zweiten Wagen. „Das lässt sich verhindern“, sagt Schäfer. Deshalb hat der Mann mit dem „Retter-Gen“ die Initiative „Hellwach mit 80 km/h“ ins Leben gerufen, ein Netzwerk aus Unternehmen, Spediteuren, Versicherungen und Verbänden. Der Name verweist darauf, dass Lastwagen auf Autobahnen höchstens mit 80 Kilometern pro Stunde unterwegs sein dürfen. Ziel ist ein Bewusstseinswandel bei Transportfirmen und Berufskraftfahrern. Dazu gehört auch das Wissen der Brummi-Fahrer um die eigene Stärke. Schäfer betont: „40 Tonnen sind auch eine tödliche Waffe – für Pkw am Stauende und für die Fahrer selbst“.
39.500 Menschen verunglücken durch Lkw-Beteiligung
Die Folgen von Zusammenstößen sind für die Autofahrer weit schwerwiegender als für die Brummi-Fahrer. Für 2018 meldet das Statistische Bundesamt deutschlandweit 39.500 Verunglückte bei Unfällen, an denen Lastwagen beteiligt waren. Dabei wurden 9438 Lkw-Lenker verletzt, davon 174 tödlich. Die Zahl der verunglückten anderen Verkehrsteilnehmer lag bei 30 000. Davon kamen 588 Menschen ums Leben. Schäfer erklärt: „Das Risiko, bei einem Lkw-Unfall getötet zu werden, ist damit für die anderen Unfallbeteiligten mehr als dreimal so hoch wie für die Lkw-Insassen.“ Nach den Zahlen der Unfallforschung der Versicherer geschehen bundesweit pro Jahr etwa 300 Auffahrunfälle durch schwere Lastwagen mit Schwerverletzten und Getöteten.
Auch wenn nach vorläufigen Angaben 2019 die Zahl der getöteten Insassen von Lastwagen mit 151 rückläufig war, sei das kein Grund zur Entwarnung, mahnt Schäfer. In den Jahren zwischen 2014 und 2018 sei die Zahl der an Autobahnunfällen beteiligten Lastkraftwagen um mehr als ein Viertel gestiegen. Und: Die Zahl der Autobahn-Baustellen, wo es besonders oft mit Lastwagen kracht, werde steigen. Schon früh in diesem Jahr habe es zudem schlimme Unfälle gegeben: Bis jetzt seien 12 Lastwagenfahrer bei 60 Auffahrunfällen tödlich verunglückt.
Ablenkung am Steuer ist das größte Unfallrisiko
Der vor kurzem aus dem aktiven Dienst ausgeschiedene Verkehrspolizist sieht mannigfaltige Ursachen für die Lkw-Unfälle: Handynutzung und Navigieren während der Fahrt zum Beispiel. Die engen Zeitfenster an den 100.000 Rampen für die Warenanlieferung setzten viele Fahrer unter Stress. Gerade auf den Transitstrecken wie der A5 oder der A6 fallen laut Schäfer viele vor allem osteuropäische Fahrer mit Alkoholproblemen auf. Der Experte sieht allerdings keine Möglichkeit, durch Kontrollen die Verstöße in den Griff zu bekommen. „Uns fehlen die Lkw-Abstellplätze und das Personal dafür“, sagt der 62-Jährige.
Deshalb setzt er auf die Selbstverpflichtung der Berufskraftfahrer und ihrer Arbeitgeber. Zielgruppen der Ende Januar gestarteten Kampagne zur Unternehmenskultur sind Transportfirmen in den Bundesländern Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Bayern und Nordrhein-Westfalen mit hohem Lkw-Anteil. Arbeitgeber und -nehmer sollen gemeinsam versichern, Regeln einzuhalten und auf staugefährdeten Strecken besonders aufmerksam zu sein.
Zehn-Punkte-Plan für Transportunternehmen und Lkw-Fahrer
Zu den Richtlinien gehören zehn Punkte, darunter: Lenk- und Pausenzeiten einhalten, kein Alkoholkonsum vor oder während der Fahrt. Unter Punkt fünf heißt es: „Fahrerfremde Tätigkeiten wie Lesen, Kaffee kochen, Speisen zubereiten, Körperpflege etc. sind mit einem sicheren Fahren unvereinbar und sind zu unterlassen.“ Auch festes Schuhwerk – keine Flip-Flops – sind ein Muss.
Schäfer läuft damit offene Türen ein. „Jeder Unternehmer ist daran interessiert, dass sein Fahrer heil mit seiner Ware ankommt und niemand anderes geschädigt wird“, sagt Dirk Engelhardt, Vorstandssprecher des Bundesverbandes Güterkraftverkehr und Logistik (BGL). Deshalb unterstütze man die Initiative. Darüber hinaus müsse es aber weitere Schritte geben. Die Autobahnpolizei müsse Kontrollen im fließenden Verkehr vornehmen, um Regelverstöße sofort zu ahnden. „Wir wünschen uns härteres Vorgehen vor allem gegen rücksichtslose ausländische Fahrer.“
Schlechte Arbeitsbedingungen sind ein Problem
Deren Arbeitsbedingungen seien oftmals verheerend – mit der Folge übermäßigen Alkoholkonsums. „Das sind quasi moderne Nomaden aus Litauen, Rumänien oder der Ukraine, die ihre Familien monatelang nicht sehen und triste Wochenenden auf Autohöfen verbringen müssen“, sagt Engelhardt. Ein weiterer Missstand sei, dass osteuropäische Unternehmen anstatt eines Lastkraftwagens mehrere Sprinter auf den Weg schickten, um die Regeln für Lenk- und Ruhezeiten besser umgehen und höheres Tempo erreichen zu können. Laut BGL erhöhte sich zwischen. 2015 und 2018 die Anzahl ausländischer Kleintransporter mit weniger als 3,5 Tonnen Gesamtgewicht, die an Unfällen mit Personenschaden beteiligt waren, um 38 Prozent auf 930; nur auf Autobahnen stieg der Wert um 38,3 Prozent auf 516.
Auch Fragen von Technik und Qualifizierung treiben den Verband um. Mangels einheitlicher Notbremssysteme müssten Kraftfahrer geschult werden, die Technik in allen Ausführungen in den Griff zu bekommen. Der Verband setzt sich auch dafür ein, dass Abstandsregeltempomaten EU-weit verpflichtend werden. Die häufigsten Fehler der Brummi-Fahrer sind laut einer Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages mit 20 Prozent Abstandsfehler (Stand 2016). Ein Feldversuch hat laut BGL gezeigt, dass Fahrerassistenzsysteme die Unfallzahlen von Lkw und Bussen um ein Drittel verringern.
Für seine Initiative mit der Identifikationsfigur „Max Achtzig“ sucht Schäfer noch eine Galleonsfigur, vornehmlich aus der Wirtschaft. Verbandschef Engelhardt kann sich gut vorstellen, in die Rolle eines Nationalen Koordinators zu schlüpfen – damit schreckliche Unfälle wie der am Rosenmontag vor zwei Jahren nie mehr passieren.