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Supertest Mercedes Actros 1863: Wolf im Schafspelz

16.08.2014 08:00 Uhr
Supertest Mercedes Actros 1863: Wolf im Schafspelz
Für einen Euro-6-LKW mit über 600 PS geht ein fahrfertiges Leergewicht von acht Tonnen in Ordnung
© Foto: Karel Sefrna

Unter der goldenen Hülle des aktuellen Test-Trucks steckt Daimlers stärkstes Serien-Aggregat. Mit 625 PS und Drehmoment ohne Ende erfreut der 1863er die Sinne - ohne teures Spielzeug zu sein.

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Was für die Kollegen von Auto-Bild oder Auto-Motor-Sport der Test eines AMG oder Brabus ist, ist für LKW-Tester die Fahrt in einem der Laster-Flaggschiffe. Leider werden solche Power-Trucks im Zeitalter von Autobahnmaut, "Total Cost of Ownership" und langsam aber sicher steigenden Dieselpreisen immer seltener.

Umso erfreulicher, dass Mercedes-Benz dem TRUCKER als erstem Magazin in Europa den neuen 1863 zum Test brachte. Wir sparen uns zunächst die Sinnfrage und konzentrieren uns auf die Hardware. Mit 15,6 Liter Hubraum hat Daimler gut eingeschenkt. 171 Millimeter Hub - bei 139 mm Bohrung - zeichnen den OM 473 als äußerst Drehmoment starken Motor aus. Und tatsächlich stampft der Sechszylinder aus niedrigen Drehzahlen wie ein Schiffsdiesel und bringt die Fuhre ordentlich in Schwung.

EINE TECHNIK FEIERT FRÖHLICHE URSTÄNDE: DER TURBOCOMPOUND

Zudem spendiert Mercedes mit Turbocompound eine Technik, die auch Volvo zur IAA im neuen Antriebsstrang wiederbelebt. Der zweite Turbo, über ein Getriebe direkt mit der Kurbelwelle verbunden, bringt ein enormes Leistungsplus. Dass diese Technik eigentlich nur bei sogenannten Konstantleistungsmotoren richtig passt, tut der Sache keinen Abbruch. Denn das 625 PS starke Power-Aggregat arbeitet praktisch nur zwischen 1100 und 1300 Touren! An der unteren Grenze steht das maximale Drehmoment parat - immerhin 3000 Nm. An der oberen Grenze verfügt der Fahrer bereits über mehr als 540 PS - womit die 1600 Touren als Bereich der maximalen Leistung ziemlich uninteressant werden.

Um es kurz zu machen: Der 1863er marschiert los wie eine von der Leine gelassene Hundemeute, die hinter dem Fuchs her ist. Eingebremst wird er dabei nur von zwei Dingen: einer eher träge arbeitenden Zweischeiben-Kupplung und einer, wohl durch ihre Doppel-Turbo-Technik bedingte zögerliche Gasannahme. Triebwerke anderer Hersteller mit variablen Turbos powern da deutlich lebhafter. Verbesserungsbedürftig ist auf jeden Fall die Schaltarbeit.

Der Fahrer hört aus dem Untergeschoss, dass Powershift die Gänge regelrecht rein- und wieder rausschießt - der eigentliche Gangwechsel dauert kaum länger als einen Wimpernschlag. Bis aber die zwei Scheiben der Kupplung wieder geschlossen sind und sich die Motorelektronik zum erneuten Gasgeben entschließt, vergeht gefühlt eine halbe Ewigkeit.

Abgemildert wird dieser Effekt durch die Vehemenz, mit welcher der Sechszylinder wieder antritt. Muss man dieser Charakteristik zugute halten, dass es weder "jammernde" Reifen noch einen überlasteten Antriebsstrang gibt? Trotzdem brennt der Power-Benz eine neue Bestzeit in den Asphalt der aktuellen TRUCKER-Testrunde. Mit fast einem km/h Unterschied deklassiert er selbst den anerkannt starken Scania R 520 (TRUCKER 7/2014) zum Statisten. Zumal der noch nicht mal sonderlich sparsam war.

TROTZ DER HOHEN LEISTUNG BLEIBT DER POWER-BENZ LEIDLICH SPARSAM

Und das ist das Erstaunliche am Daimler: Bei aller Fahrfreude und Leistung zeigt er sich am Ende des Tages als durchaus wirtschaftlicher Hochleistungssportler. Klar kann er nicht mit den Sparfüchsen à la Actros 1843 oder Scania G 410 mithalten. Aber wer in mehr als 600 PS investiert, weiß, dass er keinen Spatzendurst erwarten kann. Dennoch sind die Verbrauchswerte auf akzeptablem Niveau. Selbst an Stellen unserer Strecke, wo wir die Trucks fordern, sind rund 31 l/100 km im Mittel ein vertretbarer Wert - nicht zu vergessen, fahren wir diese Passagen mit erlaubter Maximaltonnage.

Im Zeitalter von Euro 6 mit aufwendigen Katalysatoren, voluminösen Kühlsystemen und schwerer Abgasrückführung nehmen sich nicht mal die 8050 Kilo Fahrzeuggewicht des getesteten 1863 als völlig daneben aus. Immerhin verfügte der Bolide über eine üppig ausgestattete Gigaspace-Kabine, den extrem leistungsstarken Voith-Wasserretarder sowie 400-Liter-Dieselplus 60-Liter-Adblue-Vorrat und der Fahrer hatte ebenfalls hinterm Volant Platz genommen.

Beim Fahren merkt man die vorwiegend auf der Vorderachse lastenden Extra-Pfunde des mächtigen Gussblocks aus strapazierfähigem Vermiculargrafit dann doch. Wie von den V8-Scanias bekannt, zeigt sich beim Benz ein trägeres Einlenkverhalten und etwas mehr Kraftaufwand in der Lenkung. Dafür sind weniger Vibrationen im Volant zu spüren, die bei den leichteren Versionen und auf schlechten Straßen schon mal spürbar werden.

Weil aber der Motor im Vergleich generell im niedrigeren Drehzahlniveau läuft, vibriert es im Endeffekt ein wenig mehr als in unserem 1845-Referenzauto. Das ist allerdings nicht wirklich schlimm und der 630er kann für sich verbuchen, deutlich leiser zu sein als unser "untermotorisierter" Brot-und-Butter-Actros ...

Durch das höhere Gewicht vorne wird die Federungsarbeit an der Hinterachse nicht wirklich besser. Generell sind die neuen Actros keine Sänften mehr, wie ihre Vorgänger. Ob man jetzt die sportlich straffe Abstimmung der Hinterhand mag oder die alte, schäfchenweiche Konfiguration bevorzugte ist dann letztlich Geschmackssache. Auf jeden Fall schafft es die Komfortlagerung der großen Kabine jenen Langstreckenkomfort zu realisieren, den man von einem Fahrzeug dieses Schlages erwartet.

MERCEDES BEHÄLT DIE NASE VORNE BEI DEN ASSISTENZSYSTEMEN

Wie nicht anders gewohnt, macht der GPS-Tempomat "PPC" auch im Power-Benz eine gute Figur. Mit plus/minus fünf km/h bei gesetzten 85 ist man flott unterwegs und nutzt gleichzeitig die kinetische Energie des Lasters, um an geeigneter Stelle Sprit zu sparen. Auch wenn wir im Grunde unseres Herzens Retarder-Fans sind: Man kann sich die Wasser-Bremse im Falle des 1863er sparen. Wer sich die große Maschine in der 4x2-Sattelzugmaschine gönnt und sich in gesetzlichen Limits bewegt, kauft für kleines Geld die Performance-Motorbremse. Die ist hervorragend ins Bremsmanagement integriert und hat dank üppigem Hubraum Leistung en masse.

Eine wahre Freude ist die Abstimmung der zahlreichen Assistenzsysteme. ESP kommt spät und setzt sanft ein. Eher dynamische Fahrer können mit dieser Charakteristik viel Schwung mitnehmen - ohne sich und die Umwelt zu gefährden! Der Abstandstempomat arbeitet ebenfalls akkurat. Wer auf maximalen Abstand geht, erfreut sich an einer sicheren Regelung, die es leidlich gut schafft, den Spritverbrauch nicht zu sehr in die Höhe zu treiben.

Die Bedienung des Daimler-Flaggschiffs unterscheidet sich nicht von den leistungsschwächeren Brüdern - und ist damit kinderleicht. Die Konzentration aller Schaltfunktionen auf den rechten Hebel kommt bei der Mehrzahl der Fahrer gut an. An den Starterknopf haben sich die meisten inzwischen gewöhnt. Viele Mercedes-Fahrer schätzen auch den optionalen Komfortschlüssel mit seinen zahlreichen Funktionen wie Lichtcheck, Reifendruckkontrolle und noch einer Menge Spielereien mehr. Auf die von vielen Fahrern als Gimmick empfundene elektronische Handbremse verzichten die Stuttgarter. Nicht unbedingt ein Fehler, wie die Erfahrungen von Volvo- und Renault-Piloten aktueller Generationen zeigen.

DIE SICHT AUS DER GROSSEN KABINE IST VERBESSERUNGSBEDÜRFTIG

Allerdings könnte sich Mercedes bei Volvo etwas anderes abschauen: die Spiegel. Die Gehäuse der Actros-Rückblicker sind so groß, der Abstand zur A-Säule so klein, dass ganze Transporter im toten Winkel verschwinden. Das ist insbesondere bei den häufiger werdenden Kreisverkehren ein rechtes Ärgernis. Dass Daimler bei der Konzeption des Neuen nicht an einen besseren Frontaufstieg, einen besseren Zugang zur Arbeitsplattform sowie eine vernünftigere Anbringung der Kabel und Leitungen hinter dem Fahrerhaus gedacht hat, sind nach wie vor einige der existierenden Mankos.

Bei der nächsten Modellpflege würde es sich auch lohnen, in eine vernünftige Spoilerverstellung der Windleiteinrichtung auf dem Dach zu investieren. Das Economy-Paket ist so teuer, dass eine Kurbel, wie sie Renault oder DAF haben, durchaus drin sein müsste!

Apropos Pakete - unser Testtruck verfügte über Safety-Pack-Top, Economy-Top und Comfort-Top und damit alles, was gut und teuer ist. Und teuer heißt in dem Fall gut 28.000 Euro! Da bleibt sich Mercedes, wie übrigens auch Scania, seit Jahren treu und verdient über die Aufpreisliste. Trotzdem muss man sich überlegen, ob die "Packs" nicht am Ende die bessere Wahl sind. Denn günstiger als die Einzelpreise sind sie unterm Strich dann doch.

OB TEUER ODER PREISWERT, DARÜBER LÄSST SICH TREFFLICH STREITEN

Auf jeden Fall ist der Sternenkreuzer ein teures Auto, wenn auch ein gutes. Man kann die Rechnung aber noch ein wenig optimieren: den Retarder weglassen und so gut 7000 Euro sparen. Unsere Erfahrungen mit der Streamspace-Kabine zeigen außerdem, dass sie für die Mehrzahl aller Einsätze reicht. Zudem spart sie ob der besseren Aerodynamik Kraftstoff, ist einen Zentner leichter und ein paar Tausender billiger. Die gesparte Kohle würden wir dann in eine automatische Klimaanlage investieren - die einfach besser arbeitet als das mechanische Pendant. Und wenn noch was übrig bleibt: Der Klimasitz mit Massagefunktion ist wirklich eine klasse Sache!

Man könnte natürlich auch an den 625 PS sparen. Aber mal ehrlich, haben Sie schon mal gehört, dass ein Ferrari-Pilot sein Auto drosseln ließ? Und die Truck-Tuner knabbern auch nicht gerade am Hungertuch. Der Bedarf scheint da zu sein! Insofern sparen wir uns die Sinnfrage nach einem 1863 auch am Ende des Textes. Viel mehr fordern wir Mercedes auf, die Hülle des Autos ein wenig aufzuhübschen. Schaut mal nach Södertälje. Die wissen, wie man Power-Trucks richtig verpackt!

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