Vor gar nicht so langer Zeit war derjenige, der 460 PS für seinen Job zur Verfügung hatte, noch der König auf europäischen Autobahnen. 1988 beispielsweise leistete die stärkste Ausführung des Mercedes SK 480 PS, der Scania V8 kam auf 450 PS und der Volvo F16 brachte es auf einen Schub von 470 Pferdestärken. Exakt 30 Jahre später gehen wir in diesem Test ernsthaft der Frage nach, ob 460 PS für einen Sattelzug überhaupt noch ausreichen!
Wobei in diesem Fall vor allem der vergleichsweise geringe Hubraum des Testprobanden eine Rolle spielt. Denn die "verkehrsweiße" Testzugmaschine wird von Daimlers 10,7 Liter kleinem Sechszylinder angetrieben. Im vergangenen Jahr spendierte der Hersteller seinem OM 470 eine Leistungsspritze um 30 auf 460 PS, womit der Motor dem größeren und bei Daimler-Kunden beliebten 12,8 Liter großen Triebwerk (OM 471) mit 449 PS Konkurrenz macht.
WENIGER HUBRAUM SORGT FÜR WENIGER PFUNDE AUF DER WAAGE
Aber ist der kleinere Antrieb wirklich eine Alternative? Ganz klar ja, wenn es auf das letzte Kilo Nutzlast ankommt. Der OM 470 wiegt nämlich exakt 150 Kilo weniger als sein um 2,1 Liter größeres Pendant. Das trägt dazu bei, dass die Testzugmaschine für einen Actros - der nicht gerade als Fliegengewicht bekannt ist - mit knapp 7,2 Litern verhältnismäßig leicht daherkommt.
Technisch muss sich der Käufer ebenfalls nicht im Verzicht zum größeren Aggregat üben. Die Beatmung übernimmt hier wie dort seit dem vergangenen Jahr ein asymmetrischer Turbolader aus eigener Entwicklung und der Diesel gelangt über die verbesserte X-Pulse-Einspritzung mit bis zu 2700 bar in die Brennräume. Zusätzlich verringerte Mercedes die Widerstände im Motor, beispielsweise durch neue Kolbenprofile.
Nach dem Dreh am Zündschlüssel - pardon, dem Druck auf den Actros-Startknopf - offenbart der kleine Antrieb ein dumpferes Verbrennungsgeräusch als der große Bruder. Dabei klingt der Common-Railer keinesfalls unangenehm, aber eben anders. Auch bei der Geräuschkulisse sind keine Unterschiede auszumachen. Ein Kapitel, bei dem wir beim Actros schon oft Kritik üben mussten. Schließlich tragen die Daimler-Testfahrzeuge zumeist die aerodynamisch günstige StreamSpace-Kabine, die im Vergleich zu den größeren Fahrerhäusern à la BigSpace oder GigaSpace eine schlechtere Dämmung aufzuweisen scheint. Die Geräuschkulisse muss deshalb als vergleichsweise hoch bezeichnet werden. Kritik, auf die Mercedes hoffentlich im Rahmen des zur IAA im September erwarteten Facelifts reagieren wird.
Davon abgesehen ist auch die Motorcharakteristik ähnlich wie beim volumenstärkeren Antrieb. Wie dieser, dreht der Reihensechszylinder willig hoch, zieht ab 1000 Touren kräftig durch und liefert 100/min später sein ganzes Drehmoment von 2200 Newtonmetern an das Getriebe. Auch niedrigere Drehzahlen bereiten keine Probleme - außer, dass in solchen Gefilden mehr Vibrationen entstehen.
Wird die Topografie aber anspruchsvoller, zeigt sich der Nachteil des OM 470. Durch seinen geringeren Hubraum beißt er sich naturgemäß weniger an Steigungen fest, vor allem aber fehlt ihm die Drehmomenterhöhung Top Torque, mit welcher die 450-PS-Einstellung des größeren OM 471 in der zwölften Fahrstufe aufwarten kann. Und dann sind es plötzlich 200 Newtonmeter mehr, die der größere Motor dem Berg entgegenstellen könnte.
So muss das Powershift-Getriebe selbst bei vermeintlich einfacheren Aufgaben, wie der Beförderung unseres 24 Tonnen schweren Krone-Testaufliegers, öfter eine Rückschaltung einleiten - was meist spätestens bei 1050/min geschieht. Im elften Gang liegen danach knapp 1300 Umdrehungen an, die genügen, um auch steile Stiche ohne weitere Schaltung zu überrollen. Auf diese Weise ist das Drehzahlniveau insgesamt aber etwas höher als beim OM 471.
DEN GPS-TEMPOMATEN PPC HAT DAIMLER SEHR GUT ABGESTIMMT
Linderung kann der Fahrer selbst schaffen, indem er am Fuße der Steigung noch mal kräftig aufs Gas tritt, um mehr Tempo mit in den Berg zu nehmen und die Rückschaltung so länger hinauszuzögern. Anders als bei vielen Wettbewerbern verfügt der GPS-Tempomat des Mercedes leider über keine derartige Programmierung.
Das ist aber auch schon das Einzige, was man Daimlers GPS-System PPC vorwerfen kann. "Predictive Powertrain Control" agiert vorbildlich mit Motor und Getriebe und trifft stets die richtige Entscheidung. Obwohl man es oft kaum glauben mag, wenn Powershift mitten in Steigungen plötzlich selbstbewusst von der zehnten direkt in die zwölfte Fahrstufe wechselt. Aber selbst bei solchen Manövern liegt die Elektronik nie daneben.
Eine Frage der Philosophie ist die Eco-Roll-Strategie. Mercedes setzt klar auf "viel hilft viel". Soll heißen, wann immer es möglich ist, aktiviert das System den Freilaufmodus und der Sechszylinder geht sozusagen auf "Stand-by". Ob das auf der Autobahn wirklich immer die ökonomischste Variante ist, lässt sich schwer sagen. Auf der Landstraße oder im Stadtverkehr wäre unserer Meinung nach die Schubabschaltung mit eingelegtem Gang die sparsamere Lösung, beispielsweise, wenn der Zug auf eine Ampel zurollt. Vorausschauende Fahrer greifen in solchen Fällen manuell ein, indem sie Eco-Roll durch Aktivierung der Motorbremse beenden, was der Sache aber zumeist wenig dienlich ist. Oder - deutlich umständlicher - man schaltet per Druck am Wählhebel für die Dauer der Rollphase in den manuellen Schaltmodus.
VERBESSERTER WIRKUNGSGRAD BEIM POWERSHIFT-GETRIEBE
Noch ein Wort zur Mercedes-eigenen Powershift-Automatik: Auch hier hat der Hersteller nachgelegt und am Wirkungsgrad gefeilt. Dafür wurden die viel beanspruchten Zahnräder der Vorschaltgruppe reibungsoptimiert, zusätzlich reduzierten die Ingenieure die Ölmenge um drei Liter, was die Planschverluste reduziert. Gewicht und Verschleiß spart die Umstellung von der bisherigen Synchronisierung beim Nachschaltgetriebe auf eine Klauenschaltung. Vor allem will Mercedes auf diese Weise die Gangwechsel beschleunigt haben.
Tatsächlich schaltet Powershift schnell - manchmal gar so schnell, dass der Fahrstufenwechsel etwas unharmonisch erfolgt. Ebenfalls zum Facelift noch mal vornehmen sollten sich die Mercedes-Entwickler die Kupplungssteuerung. Denn anfahren, ohne dass der Fahrer leicht durchgeschüttelt wird, ist im Actros nach wie vor ein fast unmögliches Unterfangen.
Dafür hat sich die Bekämpfung der inneren Widerstände an Motor und Getriebe ausgezahlt, denn der 1846 ist sparsam unterwegs: 25,3 l/ 100 km stellte er für die Beförderung unseres Test-Aufliegers in Rechnung. Dem 1845er, auf der gleichen Strecke mit dem gleichen Auflieger getestet, kann er aber nicht das Wasser reichen. Der war 0,4 l/100 km sparsamer und einen Tick schneller unterwegs.
Wahrscheinlich ist es deshalb kein Wunder, dass man den kleineren OM 470 nach wie vor eher selten vor Sattelaufliegern sieht.