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Interview: "Verstöße werden zum Kavaliersdelikt"

30.03.2017 08:00 Uhr
Interview: "Verstöße werden zum Kavaliersdelikt"
Professort Dieter Müller, Experte für Straßenverkehrsrecht
© Foto: Jürgen Gebhardt/DVR

Überholte Gesetze, zu wenige Kontrollen, zu geringe Strafen: Das kritisiert der Verkehrsrechtsexperte Professor Dieter Müller im Interview.

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Wie ist es in Deutschland um die Verkehrspolitik bestellt? Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) wollte das von dem Experten für Straßenverkehrsrecht, Professor Dieter Müller, wissen und befragte ihn über die Wirksamkeit unserer Gesetze, die Höhe der Strafen im internationalen Vergleich und die Effizienz der Polizeiarbeit.

Herr Professor Müller, was ist dem Staat die Sicherheit seiner Bürger und Bürgerinnen auf unseren Straßen nach Ihrer Auffassung wert?

Die Antwort auf diese Frage kann man an den Bemühungen der drei Staatsgewalten ablesen, das Ziel der Verkehrssicherheit mit ihren Mitteln zu fördern. Ich denke, dass es deutliche Defizite in allen drei Bereichen gibt. Die Legislative könnte die zur Verfügung stehenden Gesetze inhaltlich schärfen und die Judikative könnte ihr Personal zielgerichteter zum Schutz der Verkehrssicherheit entscheiden lassen. Den größten Fehlposten sehe ich jedoch in der Exekutive von Bund und Ländern. Deutschland wird das vom Bundesverkehrsminister gesteckte Ziel, die Anzahl der Verkehrsunfalltoten vom Vergleichsjahr 2010 bis zum Zieljahr 2020 um 40 Prozent zu senken, grandios verfehlen. Das steht schon jetzt fest und ist ein sehr deutlicher Hinweis auf fehlerhaft gesetzte Prioritäten.

Demnach sind unsere Gesetze und Normen nicht auf der Höhe der Zeit?

Deutschland verfügt über ein sehr ausdifferenziertes verkehrsrechtliches Normensystem, wie es nicht in vielen Staaten zu finden ist. Ich möchte daher auch nicht alles kritisieren, aber partiell hinken wir der Zeit hinterher, der technische Fortschritt und das Verkehrsverhalten der Menschen ändern sich schneller, als Gesetze es normativ fassen könnten. Gesetzgeber und Verordnungsgeber befinden sich daher zum Teil nicht mehr auf der Höhe der Zeit, was insbesondere an der antiquierten Norm des Paragrafen 23 Absatz 1a Straßenverkehrsordnung (StVO), dem Handyverbot beim Führen eines Fahrzeugs, deutlich wird.

Regeln und Normen sollten gut verständlich und bekannt sein, damit sie auch akzeptiert werden. Ist das bei uns der Fall?

Ein klares Nein! Schauen wir uns doch nur einmal die sprachlich und inhaltlich missglückte situative Winterreifenpflicht des Paragrafen 2 Absatz 3a StVO an. Diese Norm versteht wirklich kein Fahrzeugführer und auch unter Juristen besteht keine einheitliche Auslegung. Oder betrachten wir die Schlupflöcher des immer noch praktizierten Führerschein-Tourismus von Autofahrern, die in Deutschland mangels Fahreignung keinen Führerschein erhalten würden und diesen daher im Ausland regelrecht kaufen, ohne dass das europäische Recht dies verhindern könnte.

Wie wirken Gesetze und Strafen?

Sie wirken erst einmal, indem sie allgemein bekannt und akzeptiert sind. Dazu bedarf es einer verständlichen Formulierung sowie einer systematisch wohldurchdachten Struktur der Vorschriften. Tatbestand und Rechtsfolge müssen aufeinander abgestimmt sein und die Lebensrealität abbilden. Nur auf diese Weise können Normen das menschliche Verhalten sinnvoll regulieren. Das ist der Rechtsgedanke der Generalprävention. Liegt dann ein bewiesener Normverstoß eines ermittelten Täters vor, hat der Rechtsstaat die Aufgabe, die für diesen Täter passende Strafe zu finden, damit er sich zukünftig an die Normen hält. Das ist der Rechtsgedanke der Spezialprävention.

Sind die Strafen in Deutschland im internationalen Vergleich in ihrer Höhe angemessen?

Nein, das ist leider nicht so. Deutschland befindet sich im internationalen Maßstab der technisch fortschrittlichsten europäischen Staaten für sämtliche sicherheitsrelevanten Delikte am untersten Ende der europäischen Sanktionsskala für Bußgelder. Als gutes Beispiel mag in dieser Hinsicht der Handyverstoß gelten: Dieser wird in Deutschland nach dem Bußgeldkatalog mit 60 Euro bestraft, in drei anderen europäischen Staaten aber mit jeweils 200 Euro, und dort wird im Durchschnitt nicht besser verdient als in Deutschland. Auf diese Weise werden Verstöße zu Kavaliersdelikten herabgewürdigt, deren Sanktionen kein Fahrzeugführer mehr ernst nimmt. Bei Verkehrsstraftaten vermisse ich oft sensible Staatsanwälte und Strafrichter, die den Gedanken des Opferschutzes, der eng mit der Verkehrssicherheit verknüpft ist, beherzigen. Wenn ich zum Beispiel von fahrlässigen Tötungen im Straßenverkehr höre, dass die Täter lediglich einen Strafbefehl erhalten, ohne in einer Hauptverhandlung Rede und Antwort stehen zu müssen oder sich öffentlich entschuldigen zu dürfen, zweifle ich am Rechtsstaat. Hauptverhandlungen sind aus Opfer- und Hinterbliebenensicht sehr wichtig, um ein tragisches Geschehen verarbeiten zu können.

Wie steht es um die Kontrolldichte in Deutschland?

Die Kontrolldichte hat bei nahezu allen Verkehrsdelikten und in fast allen deutschen Bundesländern seit vielen Jahren eine deutlich fallende Tendenz. Ich untersuche dieses Thema alljährlich für den Freistaat Sachsen. Das Verkehrsverhalten im Straßenverkehr wird seltener kontrolliert und Delikte bleiben alljährlich millionenfach unerkannt. Damit unterbleiben wertvolle Rückmeldungen für Fahrzeugführer und Fußgänger, die aus der unterlassenen staatlichen Reaktion auf ihr Fehlverhalten nicht lernen können.

Warum wird so wenig kontrolliert?

Das Überwachungspersonal wurde dank zahlreicher Organisationsreformen, die nichts anderes waren als verkappte Personaleinsparungen, bei den Länderpolizeien stark dezimiert. Insbesondere die Spezialisten in der Verkehrspolizei waren davon betroffen. Das Heranbilden neuen Personals ist jedoch ein sehr langwieriger Prozess, weil gerade Verkehrspolizisten von ihrem Erfahrungswissen leben.

Was ist ein Dunkelfeld und wie groß ist es bei Delikten im Straßenverkehr?

Man unterscheidet zwischen dem absoluten Dunkelfeld, den unentdeckt bleibenden Verstößen, und dem relativen Dunkelfeld, den bemerkten, aber nicht angezeigten Verstößen. Leider gibt es keinerlei Studien über das Dunkelfeld der Delikte im Straßenverkehr. Die Ermittlungsbehörden Polizei und Kommunen stochern sozusagen eher zufällig im Dunkelfeld herum und es gelingt ihnen nur sehr unzureichend, die Delikte in das Hellfeld der entdeckten und verfolgten Verstöße hinüberzuziehen. Forschung ist dringend erforderlich und muss im Bund wie auch in den Ländern von den verantwortlichen Ministerien des Innern und für Verkehr initiiert werden. Man hat zu Recht den Eindruck, dass es die verantwortlichen Minister nicht interessiert, was sich um sie herum im Straßenverkehr abspielt.

Wie effizient arbeitet die Polizei in Deutschland?

Die Polizei arbeitet im Verkehrsbereich so effizient, wie sie die Politiker und die Vorgesetzten in der Polizei arbeiten lassen, und das ist von Bundesland zu Bundesland, ja manchmal sogar innerhalb eines Bundeslandes, sehr unterschiedlich. Es ist eben alles eine Frage der Umsetzung realer Möglichkeiten. Gibt man der Polizei genügend Personal für den Verkehrsbereich, kann sie erst einmal effektiver arbeiten und sich den wirklich gefährlichen Deliktbereichen widmen, in denen es die meisten Verunglückten zu beklagen gibt. Setzt man dann in einem zweiten Schritt gut ausgebildete und motivierte Beamte an der richtigen Stelle ein, gelangt man auch zu effizienten Ergebnissen, die man unschwer an nachlassenden Unfallzahlen und sinkenden Verunglücktenzahlen feststellen könnte. Beide Kennwerte stagnieren jedoch seit einigen Jahren auf einem aus Sicht der Bürger und Verkehrsteilnehmer nicht tolerablen Niveau.

Wie ist die Arbeit der Bußgeldstellen einzuschätzen? Wie sieht es hier mit der Effizienz aus?

Für die Arbeit in Bußgeldstellen gelten im Grunde die gleichen Prinzipien wie für die Polizei, nur dass diese Verantwortung direkt in Hunderten deutscher Kommunen liegt. Dort scheinen noch nicht alle Landräte und Oberbürgermeister begriffen zu haben, dass es bei dem Arbeitsgegenstand ihrer Verkehrsbehörden, von denen die Bußgeldstelle nur eine ist, direkt um die Lebensqualität der ihnen anvertrauten Bürger geht. Bußgeldbehörden haben noch große Verbesserungspotenziale für die Verkehrssicherheit. So könnten sie deutlich konsequenter Fahrverbote und Fahrtenbücher anordnen, um den Fahrzeugführern dadurch zu zeigen, wie wichtig ihnen die Verkehrssicherheit tatsächlich ist.

Zudem hat sich das Modell der zentralen Bußgeldstellen für ein gesamtes Bundesland bewährt, wird aber noch nicht in allen Bundesländern praktiziert. Zentrale Bußgeldstellen arbeiten in Relation zum Personal, das sonst in den einzelnen Kommunen erforderlich wäre, mit geringerem Personaleinsatz, aber trotzdem effizienter, als es mehrere kommunale Bußgeldstellen könnten, und zwar allein schon aufgrund einer effektiveren Ordnung des Verfahrens, eines differenzierteren Erfahrungsschatzes und einer damit verbundenen größeren Durchsetzungskraft der Entscheidungen vor Gericht.

Warum taucht das Thema Ablenkung nicht im deutschen Unfallursachenverzeichnis auf?

Das heute noch gültige Unfallursachenverzeichnis datiert in seinem Kern tatsächlich aus dem Jahr 1975 und ist daher schon lange nicht mehr zeitgemäß. Es bedarf dringend einer Überarbeitung durch Bundes- und Länderministerien.

Die zuständigen Minister und ihre Ministerialbürokratie stehen seit Jahren einer vernünftigen Einigung im Weg. Hier ist einmal ein Machtwort gefragt, was aber bei Ministern, die zum Teil nur in Legislaturperioden denken und handeln, sehr schwierig ist.

Was halten Sie davon, Delikte, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehen, mit dem Entzug der Fahrerlaubnis zu bestrafen?

Von dieser Idee halte ich rein gar nichts, denn sie führt das sinnvolle Prinzip, Fahrverbote an besonders gefährliche Delikte zu knüpfen, ad absurdum. Eine solche Idee ist kontraproduktiv für die Verkehrssicherheit, weil sie deren Grundprinzipien grundlos verwässert. Inhaltlich handelt es sich dabei um ein Armutszeugnis der Justizpolitik, die in der gerechten Bestrafung vielfach ebenso versagt wie in der konkreten Strafvollstreckung.

Wie kann die Vision Zero, eine Verkehrswelt ohne Getötete und Schwerverletzte, mit Leben gefüllt werden?

Die Vision Zero ist ein Ziel, an dem es sich mit aller Kraft zu arbeiten lohnt. Ich habe mich diesem Ziel in meiner beruflichen und auch meiner ehrenamtlichen Arbeit verschrieben. Dieses Ziel muss immer wieder mit neuen Ideen und Initiativen belebt werden.

Erst die vielen beruflich und ehrenamtlich an der Verkehrssicherheit arbeitenden Menschen wie zum Beispiel die Tausenden Mitarbeiter der örtlichen Verkehrswachten lassen die Vision Zero von einem schillernden Gedanken zu einem sinnvollen und vor allem konkret wirksamen Projekt werden. Mir fehlt da aber auch eine politische Initiative von höchster Stelle, wie sie etwa in anderen Staaten von Ministerpräsidenten oder gar Staatspräsidenten für die Verkehrssicherheit ihrer Bürger ergriffen wird.
Interview: Sven Rademacher

Zur Person

Professor Dr. Dieter Müller lehrt und forscht seit 2000 in den Fachgebieten Straßenverkehrsrecht und Verkehrsstrafrecht an der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) in Rothenburg/ Oberlausitz. Er arbeitet seit 2001 durch Schulungen und Publikationen an einer Verbesserung der Verkehrssicherheit bei Einsatzfahrten von Rettungsdiensten, Feuerwehr, Zolldienst und Polizei. Vor seinem Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen und Hannover war er als Polizeibeamter in Niedersachsen tätig.

Im Jahr 2001 gründete Professor Müller das Institut für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten Bautzen (IVVB) als Forschungs- und Publikationsplattform.

Der Rechtsexperte ist seit 2015 Vorsitzender des Juristischen Beirates des DVR, im selben Jahr erhielt er den Goldenen Dieselring des Verbandes der Motorjournalisten (VdM) für seine verkehrswissenschaftliche Forschung im Bereich der Verkehrssicherheit.

Veröffentlichung dieses Interviews mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Verkehrssicherheitsrats e.V. (DVR), Bonn

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