Vilshofen. Knapp 20.000 Vario sollen in Deutschland noch existieren. Den 7,5-Tonner produzierte Mercedes-Benz zwischen1986 und 2013. Einen adäquaten Nachfolger kam allerdings bis heute nicht auf den Markt und mit dem Fuso Canter kann oder will sich nicht jeder Kunde anfreunden, zumal es den Japaner nicht als Kastenwagen gibt. So finden sich vor allem bei Kommunen und Behörden, aber auch bei manchem Paketdienstleister noch viele Varios mit speziellen Auf- oder Ausbauten im Fuhrpark. Verschärfte Abgasanforderungen in vielen Städte drohen die Ära des Fahrzeugs nun aber endgültig beenden.
Oder eben auch nicht, denn der Vilshofener Fahrzeugbauer Paul nimmt sich zusammen mit dem Achshersteller BPW des Vario an. Kunden können ab Herbst ihren betagten Mercedes zu Paul liefern. Dort wird der gesamte Lkw entkernt und generalüberholt. Herzstück ist allerdings die Umrüstung von Diesel auf Elektro. Der E-Motor bekommt allerdings nicht unter der Stummelhaube seinen Platz. Die gesamte Antriebseinheit steckt in der neuen E-Achse von BPW. In der Starrachse befinden sich zwei Asynchron-Elektromotoren mit jeweils 75 kW Leistung. Vorteil dieser Bauweise: Bauteile wie Kardanwelle oder Achsdifferenzial entfallen, was Kosten, Gewicht und Bauraum spart. Letzterer steht so für die Batterien zur Verfügung, die Paul unterflur montiert, so dass das Ladevolumen des Vario uneingeschränkt erhalten bleibt und sich jede Karosserievariante (Kastenwagen, Pritsche, Fahrgestell, Doka) umrüsten lässt.
Ein erstes Exemplar stand bereits für Testfahrten zu Verfügung. Auf den Dreh am Zündschlüssel folgt zunächst lautes Kompressorbrummen, das zu einem E-Lastwagen nicht recht passt. Aber schließlich wollen Betriebs- und Feststellbremse mit Luft versorgt werden. Sobald der Solldruck erreicht ist, genießt man die für einen Vario untypische Ruhe. Anstelle des rappeligen Vierzylinder-Diesels ist nur ein dezentes Summen vernehmbar. Auch der schlottrige Schalthebel ist verschwunden, die Richtungswechsel werden über einen kleinen Joystick am Armaturenbrett eingeleitet, an einem nachgerüsteten Bildschirm lassen sich die aktuelle Fahrtrichtung sowie der Ladezustand der Akkus ablesen.
Nicht mit denen des Diesels vergleichbar sind die Fahrleistungen des E-Vario. Drückt der Fahrer das Gaspedal durch, wird der Lkw von der beeindruckenden Kraft von zwei mal 3250 Newtonmetern Drehmoment regelrecht nach vorne katapultiert, das abgeregelte Höchsttempo von 90 km/h ist nach wenigen Sekunden erreicht. Wer diese Art der Beschleunigung allerdings zu oft genießt, läuft Gefahr die von Paul angegebene 100-km-Reichweite, die die Lithium-Ionen-Akkus bieten sollen, deutlich zu verfehlen. Ein paar Kilometer würde ein Rekupiermodus beim Rollen zurückspeichern, über den der Prototyp aber noch nicht verfügte. In den Serienmodellen wird man aber zwischen „Segeln“ oder Rekupieren wählen können, was nebenbei auch helfen würde das Fehlen einer Motorbremse etwas zu kompensieren.
Optisch und technisch hinterlässt der Umbau einen soliden Eindruck - je nach Zustand des Spender-Fahrzeugs, von Bastellösung keine Spur. Ein wirkliches Sonderangebot ist der Elektro-Vario allerdings nicht, knapp 120.000 Euro müssen laut Paul einkalkuliert werden. Dem Vario beschert es dafür ein nahezu unendliches Leben. Und dem Fahrer/Halter ein reines Gewissen. Denn einen Elektroantrieb in einen bestehenden Lkw einbauen, nachhaltiger geht es nun wirklich nicht! (bj)