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Daimlers Korpulenz-Anzug: Forschung für Pfundskerle

05.05.2014 08:00 Uhr
Daimlers Korpulenz-Anzug: Forschung für Pfundskerle
So hatte sich TRUCKER-Volontär Michael Simon Dick-Sein nicht vorgestellt
© Foto: Sabine Köstler

Daimler hat einen Korpulenz-Anzug entwickelt. Der "Obesity Suit" soll die Ingenieure für die Bedürfnisse übergewichtiger Fahrer sensibilisieren. Ob der Anzug ein sinnvolles Entwicklungswerkzeug ist, zeigt der Selbstversuch.

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Schweißperlen tropfen von der Stirn. Das Herz wummert wild in der Brust, als ich auf den neongrünen Actros zuwanke. Um die Haltegriffe zu erreichen, recke ich meine speckigen Arme ächzend nach oben. 1,70 steilwandige Meter muss ich erklimmen, um meinen Arbeitsplatz zu erreichen. Ein guter Leichtathlet könnte vom Boden per Fosbury-Flop direkt ins Fahrerhaus springen - ich bin schon froh, dass ich das Bein bis zur ersten Trittstufe gehoben bekomme. Schaulustige kichern über die ungelenke Kletterpartie. Das Fahrerhaus wankt gewaltig und ruht erst, als ich mich erschöpft in den Sitz fallen lasse. Endlich wieder sitzen!

Es ist keine fünf Minuten her, da wog ich noch 25 Kilogramm weniger - jetzt klemmt das Lenkrad an meinem Bauch. Der Rechner für den Body Mass Index BMI spuckt den Wert 32 aus. Mist! - Ich bin fettleibig! Schuld an der Gewichtsexplosion ist nicht etwa eine unbeherrschte Fress-Orgie, sondern Richard Sauerbier. Der Daimler-Ingenieur hat mich in einen so genannten "Obesity Suit" gezwängt. Der ockerfarbene Korpulenz-Anzug besteht hauptsächlich aus einer Jacke und einer Latzhose, die dem Träger nicht nur Kilos aufbrummen, sondern ein authentisches Erlebnis vom Fett-Sein vermitteln soll.

AUTHENTISCHES ERLEBNIS DANK DER MATERIALIEN

Dafür sorgen die Materialien. Baumwollmischgewebe und Silikonnetzmatten legen sich wie echtes Fett über den Körper. Ein "Fat-Suit", wie ihn Schauspieler in Filmen tragen, würde lediglich einen optischen Effekt erzielen. "Unser wissenschaftlicher Anspruch übersteigt den 'Fat-Suit'", sagt Sauerbier. Normalerweise quetscht der Ergonomie-Experte nicht Journalisten, sondern schwäbische Fahrzeug-Entwickler und -Manager in die zweite Haut. Die Ingenieure sollen sich so besser in die Rolle eines schwergewichtigen Menschen begeben können. "Korpulent zu sein, konnte man sich vorstellen, aber man konnte sich nicht in die Menschen hineinversetzen", erklärt der Forscher.

Ein reales Erlebnis vermittelt nun der "Obesity Suit". Ursprünglich konzipierten Richard Sauerbier und sein Team den Anzug für die Tochterfirma Freightliner. Denn in Nordamerika gelten 90 Prozent der LKW-Fahrer als übergewichtig.

Doch nicht nur in Übersee schlägt der Kompass in Richtung Gewichtszunahme aus. Auch in Europa und Asien führen veränderte Essgewohnheiten zu beleibteren Fahrern. Deshalb benutzt nun auch Mercedes Benz Trucks den "Obesity Suit" als Werkzeug bei der Fahrzeugentwicklung.

Am Standort Sindelfingen befinden sich zwei Kofferwagen. In beiden hängen fein säuberlich aneinandergereiht eine Jacke, eine Latzhose sowie Westen und Unterziehhosen auf Kleiderbügeln. Die männliche Ausstattung verleiht dem Wahl-Dicken so zusätzlich 25 Kilogramm, die weibliche 17.

Es komme nicht so sehr auf das tatsächliche Gewicht an, sondern auf das empfundene, erklärt Sauerbier. Deshalb ist die korrekte Verteilung der Masse wichtig. Sowohl beim Gewicht als auch bei der proportionalen Verteilung haben die Entwickler anatomische Unterschiede zwischen Mann und Frau berücksichtigt. Dafür scannten die Forscher Hunderte echte Trucker und Truckerinnen in den USA.

ES IST NICHT DAS ZIEL, EINEN LKW FÜR DICKE ZU BAUEN

Derweil kämpfe ich am Steuer mit meinen neuen Proportionen. Wie gewohnt greife ich mit der rechten Hand nach dem Gurt, um mich anzuschnallen. Doch auf halber Strecke bremst mich der Bauch aus.

Eine andere Strategie muss her. Ich kippe mich zunächst leicht zur rechten Seite, fummle mit der linken Hand nach dem Gurt, führe ihn nach vorne und übergebe ihn dann in die rechte Hand. Der Rest ist wie ein Tasten im Dunkeln. Meine überdimensionale Hüfte versperrt mir die Sicht auf das Gurt-Schloss. "Das normale Bewegungsmuster führt nicht mehr zum Erfolg", erklärt Sauerbier, "dann macht es 'klick', weil man gezwungen ist, umzudenken." Diesen Effekt will Sauerbier bei seinen Ingenieuren erzielen. Sie sollen ihre eigenen Erfahrungen als übergewichtige Menschen nun in die Verbesserung der Actros-MP5-Reihe stecken. Dabei geht es Sauerbier und seinen Kollegen jedoch nicht darum, einen LKW zu bauen, der speziell auf korpulente Menschen ausgerichtet ist. Eine gute Erreichbarkeit der Schalter und Hebel, ein gutes Platzangebot am Lenkrad, gut angebrachte Trittstufen und Haltegriffe kommen allen Fahrern zu Gute, meint Sauerbier.

Nachdem ich den halsbrecherischen Abstieg gemeistert habe und wieder festen Boden unter den Füßen spüre, befreit mich Sauerbier aus dem Korpulenz-Anzug. Ich bin klatschnass bis aufs Hemd. Der "Obesity Suit" belastet eben realitätsnah das Herz- und Kreislaufsystem, erklärt der Ingenieur.

Aus der Ferne beobachtet Siegfried Rothe skeptisch den Kostümball der anderen Art. "Es ist nett einen Korpulenz-Anzug zu haben, aber dort will ich eigentlich nicht hin", erklärt er. Der Entwickler des TopFit-Trucks - im nächsten Heft Neues dazu - setzt alles daran, dass seine Kundschaft eines Tages nicht mehr mit einem "Obesity Suit" simuliert werden muss. Denn übergewichtige Fahrer, das habe ich am eigenen Leib erfahren, haben es echt nicht leicht auf dem Bock.

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