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Melissa Rychlik: Immer wieder aufstehen

09.02.2014 08:00 Uhr
Melissa Rychlik: Immer wieder aufstehen
Melissa Rychlik: "Berufskraftfahrerin zu werden, war die beste Entscheidung meines Lebens."
© Foto: Michael Simon

Bei einem Arbeitsunfall zertrümmert sich Melissa Rychlik ihr linkes Knie. Allen ärztlichen Prognosen und dem Rat der Berufsgenossenschaft zum Trotz kämpft sie sich hinters Lenkrad zurück.

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Es ist früh am Samstag, ein kalter Novembermorgen. Wie so viele Male zuvor belädt die Auszubildende Melissa Rychlik vor Sonnenaufgang ihren Kühl-LKW. Es steht eine Tour im Shuttle-Verkehr an. Ein Routine-Job. Nur noch wenige Handgriffe, bis es losgeht. Melissa steht mit dem linken Bein auf der Ladefläche, mit dem rechten auf der Rampe. Plötzlich macht ihr Sattelzug einen Satz nach vorne. Des Standbeins beraubt, stürzt die junge Frau aus eineinhalb Meter Höhe auf den Betonboden. Sie ist zu überrascht, um sich abzufangen. Mit dem linken Knie schlägt sie mit Wucht auf dem grauen Untergrund auf. Die 24-Jährige brüllt vor Schmerzen - auch in der Hoffnung, der mysteriöse Fahrzeugführer versteht die Rufe nicht falsch und setzt zurück. Dieses Unheil bleibt ihr zwar erspart, doch das Schicksal trifft sie dennoch hart: Die rechte Hälfte des Knies ist zertrümmert, alle Bänder gerissen.

DAS SCHLIMMSTE AM UNFALL IST DIE ANGST, NIE WIEDER FAHREN ZU KÖNNEN

Drei Ampullen Morphium benötigt der Rettungsdienst, um das wimmernde Unfallopfer ins Krankenhaus zu bringen. Alles, woran sie sich bis zur OP erinnert, sind Schmerzen. Unbeschreibliche Schmerzen. "Die Geburt meines Sohnes war dagegen recht angenehm", bemerkt Melissa. Dann reißt die Erinnerung ab. Das Bewusstsein setzt erst nach der siebenstündigen Operation wieder ein. Der ersten OP von bislang dreien. Auch wenn alles nach Plan verläuft, Melissa spürt, dass das Knie nicht mehr zu reparieren sein wird. Langsam, aber sicher stirbt die Hoffnung, jemals wieder an das Steuer ihres geliebten Lastwagens zurückzukehren.

Die Erkenntnis schmerzt umso schlimmer, als Melissa ihre Liebe zum Fahren erst vor Kurzem entdeckt hatte. Es ist noch kein Jahr her, dass sie ihre Ausbildung zur Berufskraftfahrerin antrat. Davor hatte sie als Frisörin gearbeitet. Nicht weil das ihr Traumjob war, sondern weil das ihr Jugendfreund und Ex-Mann so für sie vorgesehen hatte. Unglücklich in einer diktierten Ehe, fasst sie nach einigen Jahren endlich den Mut, sich scheiden zu lassen, auch wenn das die Trennung von ihrem mittlerweile fünfjährigen Sohn Alessandro zur Folge hat. Der Junge lebt jetzt bei seinem Vater.

Doch die neu gewonnene Freiheit gibt ihr das Selbstvertrauen, eine weitere Ausbildung anzupacken. Diesmal ist es eine Herzensangelegenheit. Und sie wird von ihrem Traumjob nicht enttäuscht, auch wenn in ihrem Ausbildungsbetrieb längst nicht alles nach Maß läuft. Melissa ist glücklich mit ihrem neuen Leben.

Dann kommt dieser schicksalhafte 17. November, an dem ein unachtsamer Augenblick alle Zukunftspläne über den Haufen wirft. Nach vier Wochen in der Klinik ist die junge Frau am Tiefpunkt angekommen: "Ich habe zu meinen Verwandten gesagt: 'Macht das Fenster auf, ich kann nicht mehr'", erzählt sie. All ihre Gedanken kreisen nur noch darum, diesem Leben ein Ende zu setzen. "Jeder hat gesagt, du bist doch noch jung - aber genau das ist das Problem", findet sie. Letztlich ist es dem Beistand der Eltern, des ältesten Bruders und guter Freunde zu verdanken, dass sie nicht den Kopf verliert und allmählich neuen Mut schöpft. Im Laufe der Wochen kippt die Resignation in Trotz um.

Obwohl oder gerade weil ihr die Ärzte keine Hoffnungen machen und die Berufsgenossenschaft ihr nahelegt, einen anderen Beruf zu ergreifen, krempelt Melissa die Ärmel hoch. Entgegen der Empfehlung der BG und der Ärzte verlässt sie die Klinik. Für ihren Traum, eines Tages hinters Steuer zurückzukehren, erduldet sie alle Schmerzen. Als Symbol lässt sie sich den MAN-Unfall-Truck auf die Brust tätowieren "Der Weg ist das Ziel", prangt als ihre persönliche Maxime über ihrem Dekolleté. Sie will nicht verbergen, was sie für immer prägen wird.

KURIOSE WENDUNG: EIN FC-BAYERN-TRUCK UND DIE FIRMA RÖCK

Der Kampfgeist zahlt sich aus, Fortuna kehrt zurück. Weil ihr Ausbildungsbetrieb von ihr verlangt, dass sie das komplette erste Ausbildungsjahr wiederholen soll, kündigt Melissa. Mitten im Bewerbungsprozess um eine neue Stelle fährt eines Tages ein LKW an ihrer Wohnung vorbei. Der Sattelzug hätte Melissa nicht weiter interessiert, wäre er nicht in den Vereinsfarben und mit dem Logo des Rekordmeisters lackiert gewesen. Denn die Allgäuerin ist eine glühende Anhängerin des FC Bayern München. Noch am selben Abend nötigt sie einen Freund, mit ihr zu der ermittelten Spedition zu fahren. Sie will den Truck aus nächster Nähe bestaunen. Der Eigentümer heißt Siegfried Röck und er bietet ihr spontan an, den Bayern-Laster auf dem Firmengelände probeweise zu fahren.

Wenige Tage nach diesem "Spaß" wird es für die junge Fahrerin ernst: Sie sitzt nervös bei einer Spedition in einem Bewerbungsgespräch um eine Stelle als Fernfahrerin. Die Chancen, denkt sie, stehen nicht gut. Wer stellt schon eine gehbehinderte Fahrerin ein? Als der Chef über den Lebenslauf blickt, verzieht sich seine Miene: Ob sie nicht die Dame sei, die neulich bei der Spedition Röck Bewunderung für den Bayern-Truck hegte, fragt er. Ohne es zu realisieren, hatte sich Melissa bei Friedrich Röck beworben. Und der ist ausgerechnet der Bruder von Siegfried. Das Gelächter ist groß, das Vorstellungsgespräch kurz. Bereits nach zehn Minuten hat sie den Vertrag in der Tasche. Die Behinderung spielt für Röck keine Rolle.

Anders als bei ihrer Ausbildungsstelle stimmt dieses Mal auch das Drumherum. Ein überdurchschnittlich gutes Gehalt, Freiheiten bei der Planung und eine familiäre Atmosphäre im Betrieb. "Mein Chef sagt nie: 'Du musst fahren!' Sondern er fragt: 'Kannst du, möchtest du?' Ich kriege sein vollstes Vertrauen und könnte mir nichts Besseres vorstellen." Ironischerweise ist ihr Dienstfahrzeug wieder ein MAN - ein TGX 40.540 in knalligem Metallic-Grün lackiert, den sie liebevoll ihr "Baby" nennt. Für ihren neuen Arbeitgeber fährt Melissa Milch, Milchkonzentrate und Bier-Hefe durch Europa (siehe Seite 66). Meistens führen sie die Aufträge nach Frankreich, doch am liebsten tourt sie in Tschechien. Natürlich nicht, weil die Straßen so fein wären, sondern wegen der malerischen Landschaft. Und weil die Tschechen wüssten, wie man richtig LKW fährt. Melissa ist zufrieden.

Zu mehr, zum Glücklich-Sein, reicht es noch nicht. Die Aufarbeitung der Ereignisse dürfte sie noch länger beschäftigen. Über ein Jahr ist der Arbeitsunfall nun her. Der unfallverursachende Arbeitskollege wollte Melissa nur helfen, doch wieso er mit ihrem LKW, ohne etwas zu sagen, einfach losgefahren ist, das weiß sie bis heute nicht. Sie will es auch nicht wissen, da ist sie eigen. Einen Anruf des Kollegen im Krankenhaus wies sie ab; als sie sich beim Einkaufen über den Weg liefen, ergriff sie die Flucht. Melissa will keine Entschuldigung hören, sondern einfach nur vergessen. Fakt ist für sie, dass sich durch den Vorfall ihr ganzes Leben verändert hat.

DER WUNSCH EINER VERSEHRTEN: EINFACH NUR NORMAL SEIN

Niemals wieder wird sie rund laufen können. Mit 24 Jahren ist sie noch viel zu jung für ein künstliches Knie-Gelenk. "Ich würde zum Beispiel so gerne mal wieder über den Weihnachtsmarkt schlendern", erklärt Melissa. Aber überall, wo sie hinkomme, sei sie das Gesprächsthema Nummer eins. Dabei will sie doch einfach nur normal sein, so wie sie sich auch fühlt. Kein Mitleid kriegen - das wünscht sie sich. Nur so dringe man hinter die dicken Mauern ihrer Fassade, die sie um sich hochgezogen hat. "Nach außen gebe ich mich wahnsinnig kühl, doch innerlich bin ich sehr zerbrechlich", offenbart die Fahrerin.

Simon, ihr Arbeitskollege, hat diese Schutzmauern durchbrochen. Er sei einer der wenigen Menschen, die ihr wahres Ich kennen, weil er sie so behandle wie jeden anderen auch - ehrlich und ohne Samthandschuhe, meint die junge Frau. "Krieg den Arsch hoch, Fetti!", habe Simon einmal zu ihr gesagt. Und ohne jeden Zweifel: Das ist Melissa Rychlik gelungen.

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