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Abstandsvergehen: Glück gehabt

26.07.2012 08:00 Uhr

Anwalt Andreas Sassenberg erzählt Fälle aus dem Kanzleialltag

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Der gleichnamige Schlager von Katja Ebstein tönt schrill im Autoradio. Franz sitzt hinter mir. Trocken kommentiert er: "Das brauchen wir wohl, das Wunder." Er glaubt nicht an einen guten Aus­gang seines Verfahrens. Der Fall steht auf der Kippe, das weiß er. Die Richterin kann Schwarz (das wären drei Punkte) oder Weiß (folgenlos) entscheiden. So blöd das klingen mag: Beides wäre richtig und juri­stisch vertretbar. Der entscheiden­de Paragraph ist aus Gummi: Es ist § 47 II Ordnungswidrigkeitengesetz. Danach kann der Richter nach freiem Ermessen sanktionslos und punktefrei einstellen, wenn er eine Ahndung nicht für geboten hält. Subjektiver gehts nicht!

Vorgeworfen wird Franz ein Abstandsvergehen. Ganz schön dicht klebte er tatsächlich an seinem Fahrerkollegen: 22,5 Meter nur, belegt die Akte. Da fehlen 27,5! Aber Franz konnte reichlich wenig für die Situation, vor ihm fuhr ein Tanklastzug. Zügig war der unterwegs. Franz hatte 60, wenn nicht 70 Meter Abstand. Plötzlich merkt er, dass der Abstand kleiner und der Tanklastzug langsamer wird. Ein Grund ist nicht erkennbar. Vollbremsen kann er nicht. Sehr vorsichtig, ein bisschen zu schüchtern, PKW rauscht an ihm vorbei. Irgendwie eingezwängt - nach hinten allerdings ist massenweise Platz zum Kollegen. Da könnte Franz durch ein intensiveres Bremsen nach vorne Raum gewinnen - tut er aber nicht. Wer will auch in Windeseile alle Eventualtäten abwägen. Das ist zumindest nicht so einfach, wie sich die Sachbearbeiterin der Bußgeldstelle das vorstellt. Aus deren Sicht ist alles sonnenklar. Franz hat einen schweren Fahrfehler begangen. Die "Rechnung" kommt, wie stets gelb verpackt, ein paar Wochen später. Für Franz die erste Post dieser Art.

Jetzt sind wir zum Gericht unterwegs. Ich will vor dem Termin da sein, vielleicht hat die Richterin Zeit für ein Gute Laune vermittelndes Schwätzchen. Sie hat. Wir klönen über Gott und die Welt. Das ist gut, es nimmt die Spannung, die immer vor dem Termin in der Luft liegt. Die Richterin will zügig durchverhandeln, die Sache wird ohne langes Gefackel aufgerufen. Franz hat kei­ne Punkte, führt ein glattgebügeltes Privatleben. Die Richterin fragt kurz und knackig: "Verheiratet?" "Ja !" "Kinder?" "Ja, zwei." "Mit der Ehefrau?" "Selbstverständlich, mit wem sonst!" Die Richterin nickt zufrieden. Guter Mann ... Der Blick sagt, genauso solls sein.

Momente später schildern wir die Zwangslage, in der sich Franz be­funden hat. Die Richterin schaut in einer merkwürdigen Mischung aus Interesse und Skepsis. Sie ruft die Polizeibeamtin, die die Messung veranstaltet hat, in den Saal. Die DVD wird eingelegt. Sie läuft. Das LKW­Dreiergespann nähert sich - und ich sehe der Richterin an, dass sie gleich sagen wird: "Na und, da hätte er doch bremsen können". Aber in diesem Moment ergreift die Polizistin das Wort: "Also, hierfür möchte ich mich entschuldigen. Ich hab das nicht ausgewertet. Also ich, ich hätte das nicht zur Anzeige gebracht. Niemals. Das tut mir jetzt leid. Der mittlere ist ja eingeklemmt, und nach links raus kann er auch nicht." Die Richterin guckt die Polizistin fragend an. "Und wieso bremst er nicht?" "Na, wissen Sie, so schnell kann man doch gar nicht parieren." Die Polizistin ist mutig und ehrlich.

Ich frage die Richterin, ob sie schon mal im LKW gefahren sei, einmal so eine Situation habe meistern müssen. Sie ist platt, schaut uns an und meint: "Na, dann werden wir den Fehler des Auswerters mal korrigieren. Ich stelle das Verfahren ein." Unterm Tisch tritt Franz mir vor Freude auf die Füße. Wir verlassen den Gerichtssaal. Vor dem Gericht schaue ich Franz in die Augen: "Und? Franz meint: "Was meinst Du?""Na, ist doch klar, oder? Wunder gibt es immer wieder!" Aus einer Ecke, aus der mans nicht unbedingt erwartet. Eine Polizistin, die RA Andreas Sassenberg

*Name des Mandanten verändert.

ERLÄUTERUNG

§ 47 II OwiG ist die Zaubernorm des Bußgeldrechts. Selbst wenn objektiv feststeht, dass die Tat begangen wurde, darf der Richter einstellen, und zwar ganz ohne Folgen, wenn er eine Sanktion nicht für geboten hält. Die Anwaltskosten werden dem Verkehrssünder allerdings auferlegt. Das kann dem in der Regel egal sein, sofern er eine Rechtsschutzversicherung hat. Letztlich lohnt es sich immer, auf eine Einstellung nach § 47 II OwiG zu spekulieren - auch wenn man ganz sicher weiß, dass man genau das getan hat, was einem vorgeworfen wird. Eine Chance auf eine Einstellung gibt es jedenfalls öfter, als man gemeinhin glaubt.

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