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European Truck Platooning Challenge: Ab im Gänsemarsch

02.05.2016 08:00 Uhr
European Truck Platooning Challenge: Ab im Gänsemarsch
Sechs Hersteller nahmen an der Challenge teil
© Foto: European Truck Platooning

Am 4. April starteten sechs Lkw-Hersteller zur "European Truck Platooning Challenge". Der TRUCKER war bei dreien an Bord und zeigt, was damit auf uns zukommt.

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Die Niederlande, aktuell mit der EU-Ratspräsidentschaft betraut, wollten ihrem an Polen verlorenen Titel als europäische Transportnation alle Ehre machen und riefen für April 2016 die sogenannte "European Truck Platooning Challenge" ins Leben.

Ziel: eine Sternfahrt zum größten Seehafen Europas, nach Rotterdam. Schirmherr der Aktion war die niederländische Regierung. Im Rahmen der Challenge sollten von allen wichtigen Lkw-Produktionsstandorten elektronisch gekoppelte Lkw teilautonom, und damit sprit- und abgassparend, im Windschatten fahren. Dabei rückten sie auf bis zu zehn Meter zusammen - eigentlich sind ab Tempo 50 mindestens 50 Meter Abstand Vorschrift. Entsprechend mussten die beteiligten Hersteller Sondergenehmigungen beantragen. Diese einzuholen, war laut einigen Insidern "teils aufwendiger" als die Konstruktion und Feinjustierung der Technik ... Abstand halten und notfalls bremsen übernahmen bei den Versuchsfahrzeugen also Computerprogramme statt der Fahrer - womit die vielen, meist folgenschweren Auffahrunfälle endgültig Vergangenheit werden sollen.

ARGUMENTE 1 UND 2: MEHR SICHERHEIT UND MEHR PLATZ AUF DEN STRASSEN

In diesem Sinne äußerte sich auch Verkehrsminister Alexander Dobrindt, der bei der Abfahrt des MAN-Zweier-Platoons in München zugegen war: "Ein computergesteuerter Lkw reagiert weit schneller, als jeder Mensch das könnte", erklärte er. "90 Prozent aller Unfälle im Straßenverkehr gehen auf menschliches Versagen zurück". Schwere Auffahrunfälle vermeiden sollen vor allem die verkürzten Bremssignale, die bei den Lkw in weniger als 0,1 Sekunden ans Folgefahrzeug weitergegeben werden, während die aufmerksamsten Kollegen dafür rund 1,5 Sekunden benötigen.

Was für den Verkehrsminister ebenfalls ein starkes Argument ist: Das Platooning schafft Platz auf den Straßen, denn drei Züge im Platoon - ein Begriff, der aus der Militärsprache kommt und "militärischer Zug" bedeutet - benötigen im Verbund knapp 100 Meter Länge, während sonst fast 200 Meter zusammenkommen.

Insofern wundert es nicht, dass Dobrindt die aufkommende Digitalisierung begrüßt und prophezeit, dass sich automatisiertes Fahren so schnell durchsetzen könnte wie Smartphones. Dass das nicht ganz so einfach sein wird und durchaus kritischer zu bewerten ist, zeigen dann einmal mehr unsere "Selbstversuche" in der Praxis.

ARGUMENT 3: GERINGERE VERBRÄUCHE - IM MITTEL UM BIS ZU ZEHN PROZENT

An der Sternfahrt nahmen DAF, Iveco, MAN, Mercedes, Scania und Volvo teil. Zwar kommunizierten alle Fahrzeuge über dasselbe WLAN-Netz, "sprachen" also theoretisch miteinander. Im Detail gab es unterschiedliche Systeme. Während einige direkt starteten, luden Daimler, MAN und Scania zur Mitfahrt ein, um die Systeme zu erleben - TRUCKER war bei allen drei Herstellern live vor Ort und mit an Bord.

Beginnen wir alphabetisch bei Daimler am Abfahrtsort Stuttgart. Mercedes-Benz erweiterte fürs Platooning den "Highway-Pilot", der zur IAA 2014 im Future Truck 2025 präsentiert worden war. Der erlaubt teilautonomes Fahren und wird bereits seit Oktober 2015 auf öffentlichen Autobahnen getestet. Laut Sven Ennerst, Entwicklungschef bei Daimler Trucks, hat man auf eigenen Messstrecken mit bekannten Verbrauchs- und Geschwindigkeitsprofilen bei einem Platoon aus drei Zügen, die in je 15 Meter Abstand mit 80 km/h fahren, im Mittel bis zu sieben Prozent Verbrauchseinsparung erreicht.

Dabei holte der erste Zug laut Ennerst wegen des reduzierten Strömungsabrisses am Heck immerhin noch zwei Prozent, während die mittleren Züge elf und die letzte Sattelkombination im Platoon immerhin noch neun Prozent sparsamer unterwegs waren.

Wie fährt sich das in der Praxis? Nicht so einfach wie theoretisch gedacht: Schon auf dem ersten Teilstück zwischen Stuttgart und Hockenheim "zerreißen" etliche Autobahnkreuze, Einfahrten und einscherende Pkw die Actros-Dreierkette: An Autobahnkreuzen ist der Platoon gehalten, sich für zulaufende Fahrzeuge zu "öffnen". Als ein übereifriger Pkw-Fahrer in die 15-Meter-Lücke zwischen den Lkw "springt", reagieren die Mercedes per sofortiger Notbremsung abrupt ...

Christian Ballarin, Leiter der Vorentwicklung, wertet den Zwischenfall positiv: "Das synchrone Bremsen, einer der Knackpunkte bei solch geringen Abständen, funktioniert!" Ansonsten ist er bemüht, die "Schwingungsfrequenzen" zwischen den Lkw im Platoon zu optimieren. Der Abstand kann im Extremfall auch einmal unter 15 Meter verkürzt werden, umgekehrt wird nötigenfalls aber auch mehr Platz gelassen. Welche Auswirkungen das auf den nachfolgenden Verkehr hat, bleibt zunächst mal offen - zumal Entwicklungschef Ennerst sogar von sinnvollen Platoons von bis zu zehn! Fahrzeugen spricht. Nach der ersten Etappe fragen wir zwei der Testfahrer, Michael Kropp im zweiten und Hans Luft im Führungs-Zug, nach ihren Eindrücken: Beide sind sich einig, dass es auf jeden Fall "entspannender" sei, wenn man sich nicht so sehr auf den Vorausfahrenden konzentrieren müsse.

Im Gegensatz zu Daimler setzt MAN beim Platooning nur zwei Züge ein. Die Münchener sind der Ansicht, dass bereits der Zweier-Konvoi ausreichend Vorteile bietet. Vor allem aber schon sehr schnell eingesetzt werden kann -ganz im Gegensatz zu längeren Lösungen. Wobei MAN - ganz im Gegensatz zum Wettbewerb aus Stuttgart - schon bei mehr als vier Fahrzeugen Probleme sieht. In puncto Abstand kalkulieren auch die Münchener im aktuellen Versuch mit 0,8 Sekunden (was bei 80 km/h knapp 18 Metern entspricht).

Das sicher extremste Platoon brachte Scania an den Start: drei Lang-Lkw mit jeweils 64 Tonnen. Dumm nur, dass die außerhalb Schwedens nicht fahren durften. TRUCKER ging in Södertälje an Bord und ließ sich erklären, wie sich die Schweden die intelligente Kolonnenvernetzung vorstellen. Vermutlich hätten jedem deutschen Polizisten die Haare zu Berge gestanden, wäre er bei Testfahrer Henry in den R 410 eingestiegen. Auf der E 4 Richtung Süden hat man bei Tempo 80 km/h den Hänger des Vordermanns mit kaum zehn Meter Abstand direkt vor der Nase. Ohne Teilautomatisierung wäre sicheres Fahren im Konvoi völlig unmöglich. Trotzdem fragt man sich als Fahrer: Wie sicher ist Platooning?

Das Schild "LÄNGE LAST" erscheint vor unserer Frontscheibe in Greifnähe. Trucker Henry scheint trotzdem völlig entspannt. Er grinst breit, während der Kameraauslöser fürs obligate "Beweisfoto" einige Male klickt. Die Tempomat-Anzeige steht auf Level 1, pendelt zwischen 0,5 (11,1 Meter) und 0,8 Sekunden (17,8 Meter), während zumindest der Scheibenwischer unbeirrt seine Arbeit verrichtet.

Regen und Schwerverkehr sind in Södertälje zu Hause und um diese Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. Ebenso haben sich die Leute an die Lkw des "Transportlab" gewöhnt: Scania-Trucks, mit denen die Schweden interne Transporte durchführen, gleichzeitig aber auch neue Transportkonzepte und Techniken testen.

Als erster der sechs Hersteller schickte die VW-Tochter drei Sattelzüge auf die internationale Sternfahrt. Statt der obligaten 40-Tonner mit 16,5 Meter Länge ging Scania aufs Ganze: Jede der drei 410 PS-Zugmaschinen misst samt Auflieger, Dolly und Hänger satte 32 Meter und bewältigt zumindest auf der Fahrt durch Schweden 60 Tonnen.

Dass die Kombinationen an der Grenze getrennt werden mussten und als Standard-Sattelzug weiterliefen, ist nur eine Facette von "einig Europa". Die Kompassnadel dieser Sternfahrt für teilautonomes Fahren wurde aber nicht von Google und Co. geeicht. Der Fokus lag schlicht und ergreifend auf Spritsparen, Effizienz und Sicherheit. Platooning im Schwerverkehr heißt Windschattenfahren. So sinkt der Verbrauch - aber nur, wenn der Abstand zwischen den Fahrzeugen entsprechend gering ist. Um das volle Potenzial auszuschöpfen, sind allerlei Sicherheitssysteme nötig, um die höhere Unfallgefahr zu kompensieren - oder sogar zu minimieren.

Assad Alam, der seit mehreren Jahren bei Scanias "Transportlab" im Bereich Effizienz forscht, belegt anhand seiner Studien, dass man das Sparpotenzial beim Platooning errechnen kann. "Immerhin geht bei einem typischen Sattelzug bis zu einem Viertel seiner Dieselfüllung zur Überwindung des Luftwiderstandes drauf", erklärt er. Dies führte in Södertälje schon im letzten Jahr zu einem ausführlichen Test unter realistischen Verkehrsbedingungen. Im Einsatz waren dazu drei 480 PS-Lkw, die entsprechend der EU-Vorschriften mit knapp unter 40 Tonnen unterwegs waren.

Als Teststrecke (90 km gesamt) wurde absichtlich keine topfebene Strecke, sondern ein E 20-Autobahnabschnitt zwischen Mariefred und Eskilstuna gewählt, der leichte Gefälle und Steigungen aufwies. Relative Abstände untereinander wurden im 40-Millisekunden-Messintervall per Radar übermittelt. Je nach Platoon-Position (Fahrzeug 2 oder 3) betrugen die Einsparungen laut Auswertprotokoll zwischen 4 und 6,5 Prozent. Zur Sicherheit wurden die bereits gängigen CC- (Cruise Control) und ACC (Adaptive Cruise Control) -Systeme auf ein nun zusammenwirkendes Tempomat-System (CACC) ausgeweitet: Truck 1 übernimmt Tempovorgaben, "steuert" damit die beiden anderen. Insgesamt besteht die Fahrassistenz hier als Gesamtkonzept aus Radar, GPS und Wifi, die störungsfreie Übertragungsfrequenz beträgt wie bei den anderen 5,9 GHz. Der Zeitversatz am CACC wurde auf 0,5 Sekunden getaktet, was einem Abstand von zehn Metern entspricht.

Das konnte auch der aktuelle Konvoi von Scania beibehalten. Auf deutschen Straßen verlangte der TÜV Rheinland, wie übrigens auch das niederländische Pendant RDW, einen Abstand von mindestens einer Sekunde zwischen den Fahrzeugen - was die Gesamtlänge der drei Schweden dreistellig macht. Im Nachgang sollten als Zusatzauflage des TÜV die Fahrzeuge auf deutschen Straßen zusätzlich mit Zweiwege-Kamerasystemen bestückt werden. Ablenkung oder unverzichtbare Sicherheitsmaßnahme? "Ob das tatsächlich was bringt, müssen wir erst genauer untersuchen", meint Scania-Pressesprecher Hans-Ake Danielsson. "Ebenso schrumpft die Effizienz bei 20 Meter Abstand, denn der Luftwiderstand nimmt deutlich zu."

BEI EINER NOTRBEMSUNG IM PLATOON GEHT NUR EIN METER VERLOREN

In puncto Sicherheitstechnik hat der Hersteller offensichtlich Nägel mit Köpfen gemacht: Gemäß der Studie von Assam Alam geht bei einer Notbremsung übers CACC nicht mehr als ein Meter Abstand verloren. "Was Komfort oder Sicherheit angeht, haben unsere Fahrer da keinen Unterschied bemerkt". Henry und seine beiden Fahrerkollegen hatten vermutlich mehr Bedenken, ob in einem solchen Ernstfall der nachfolgende Verkehr rechtzeitig reagieren könnte.

Wegen der nötigen Harmonisierung durch die EU werden, abgesehen vom technischen "Feintuning", sicherlich noch Jahre ins Land gehen. Die behördliche Absegnung für diese Fahrt, so Jorge Soria Galvarro von Scania, eine Bremsen-Ausnahmegenehmigung der ECE R 13, ging bei allen beteiligten Ländern zügig und reibungslos. In Schweden ist man bereits drauf und dran, die Netzübertragung upzugraden - das 5G-Netz ist beschlossene Sache. Das soll auch Platooning noch ausgereifter machen.

Letztlich setzen aktuell nicht die Technik die Grenzen, sondern rechtliche Fragen und soziale Rahmenbedingungen. Melanie Schultz van Haegen, niederländische Ministerin für Infrastruktur und Umwelt, zog am Zielort Rotterdam eine positive Bilanz und forderte mehr Harmonisierung in Europa - auch wenn Europa nach unendlichen nationalen (und in Deutschland sogar bundesland-spezifischen) Genehmigungsmarathons zumindest für die Tage des Platooning ausnahmsweise Einigkeit in der Sache zeigte.

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